Unter meinen Füßen scheint der Boden zu brennen. Als würd ich auf heißen Kohlen laufen, obwohl’s gar nicht sein kann, weil: Es sind feste Steine, die zu meinen Füßen liegen. Ich trag’ Schuhe, meine nackte Haut berührt die Oberfläche nicht, kann nicht spüren, was wirklich unter ihnen liegt. Und das vielleicht wichtigste, der eindeutige Indiz, dass mein Kopf mir einen Streich spielt: Ich laufe gar nicht. Noch nicht. Ist nur noch eine Frage der Zeit, Kadett:in um Kadett:in rückt vor, die Schlange wird kürzer, kann hinter dem schmalen Pfad, den ich überwinden muss, die Zitadelle Basgiaths schon sehen. 
Der Viadukt macht mir keine Angst.
Soll schon zu Zeiten über rutschige Baumstämme balanciert sein, an die ich mich nicht erinnere. Ist gar nicht so lang her, dass einer meiner älteren Brüder mit uns am Esstisch saß, sich entspannt zurückgelehnt und mir versichert hat, dass ich mir keine Sorgen machen muss – bin als Gillespie für das hier geboren worden, wie jedes andere Kind meiner Eltern werd’ ich den Weg in den Reiter:innenquadranten mit Leichtigkeit bezwingen, ist doch klar. Werd’ Mum stolz machen, ganz sicher. – 
– Mum.
Stolz machen. 
Niemand weiß, dass am nervösen Glanz in meinen Augen nicht der Viadukt die Schuld trägt, sondern das, was sich gut versteckt in meinem Rucksack befindet. Etwas in den Quadranten zu bringen, das nicht mir selbst gehört, ist per se nicht verboten, das weiß ich. Doch es handelt sich eben nicht um ein Andenken an Zuhause, nicht um einen Glücksbringer – ist nur ein Brief, eine Handvoll verblichener, geschriebener Zeilen auf vergilbtem Pergament, kenn’ den Absender nur vom Lesen, seine Empfängerin dafür sehr genau. Weil ich zur Hälfte 
sie bin, na ja, in der Theorie, weiß schon, dass das 
so nicht funktioniert, aber irgendwie ist’s ja doch so. Weil die Empfängerin meine Mutter ist. Und die Wahrheit, die sich in den Zeilen verbirgt, alles… und irgendwie auch nichts verändert.
Sie ist jedenfalls wichtig genug, die Gesetze der Götter zu brechen – und schaut nur einer von ihnen jetzt auf mich herab, wird ein unausweichlicher Luftzug mich sehr sicher vom Viadukt fegen. 
Die Besitztümer eines Toten müssen mit ihm gemeinsam durch Feuer an Malek übergeben werden. Ich kenn’ die Regeln – und hab sie missachtet. Ganz untypisch für mich, weil ich als das Mädchen bekannt bin, das sich immer ein bisschen zu sehr an die Regeln hält. Bin langweilig und grau und will auch gar nicht anders sein, wenn ständige Angst und das Gefühl, von einer höheren Macht beobachtet zu werden, der Preis dafür sind. Ich fühl’ mich heut zehn Zentner schwerer als sonst - keine Ahnung, ob meine Beine es tatsächlich schaffen werden, mich über den Viadukt zu tragen, oder ob sie wegknicken und mich in den Abgrund fallen lassen, so, wie ich’s bestimmt verdient hätte. Doch Ace – mein Bruder, selbst im Quadranten mir gegenüber – verdient es, die Wahrheit zu kennen. Verdient, zu wissen, wer sein Vater ist. Ich balle die Hand zur Faust. Die Wahrheit steht in diesem Brief, deutlich und offen, nicht subtil zwischen den Zeilen, gibt kein Rätselraten, kein Vielleicht. 
Schritt um Schritt komm ich meiner Zukunft näher.
Schritt um Schritt wird mein Bauchschmerz größer. Hab mir Ace’ Gesicht so häufig vorgestellt, die Erkenntnis, hab’ ihn sich Räuspern hören, tief durchatmen. Jedes Szenario durchgespielt. Schock, Trauer – Wut. Weil ich den Brief an mich genommen habe, weil ich die Gesetze breche, weil ich ihm eine Wahrheit offenlege, die er lieber nicht gewusst hätte. Stell’ meine Familie über die Götter und riskiere damit 
alles, doch kann nicht anders, hab meine Prioritäten gesetzt und muss damit leben, egal wie lang noch, egal, wie qualvoll. Ich hätt’s verdient und nehm es hin. Nehme, wie es kommt. Ganz, ganz sicher. Bereue nichts (und alles), als der Abgrund näher auf mich zukommt, ein Schritt vor, zwei Schritte vor, die Welt um mich herum verstummt. Bitte, Götter – verzeiht mir; fegt mich nicht vom Viadukt, ich 
musste, muss die Zeilen zu ihm bringen, lasst mich diese eine Dinge tun, bevor ihr mir das Leben zur Hölle macht.